1945 steht Ilse Mayr im Münchner Hauptbahnhof und weiß nicht, wohin. „Wann fährt der nächste Zug?“ Der Beamte fragt sie, wohin sie denn möchte. Da sie es nicht weiß, lässt sie sich den Fahrplan vorlesen, „Stockdorf“ erinnert sie an ihre Heimat Namslau, „Dorf“ klingt sympathisch, und so wählt sie dieses Ziel.
Ilse Mayr ist am 19.6.1923 im schlesischen Allerheiligen, Kreis Namslau, östlich von Breslau geboren. Mit 16 Jahren wird sie Mitglied des Deutschen Roten Kreuzes, denn schon die Mutter war dort aktiv, und Ilse Mayr findet Gefallen an der Gemeinschaft. Heuer feiert sie ihre 70-jährige Mitgliedschaft im Roten Kreuz. Und bis heute sieht man sie aktiv bei Festumzügen und Ehrengedenken der Rotkreuzbereitschaft Planegg/Krailling teilnehmen. Für die jungen Mitglieder ist ihre Geschichte sehr beeindruckend, denn die alte Dame hat mit viel Kraft und Zähigkeit ihr hartes Leben gemeistert.
So wurde sie 1942 als junge Frau vom DRK eingezogen und musste 1944 in den Kriegsdienst, wo sie am Flugabwehrradar ausgebildet wurde. Mit vielen anderen Frauen kam sie über Krems und Steir nach Linz. Weitere Stationen führten sie 1945 als Flüchtling ins Sudetenland und schließlich nach Bayern. Ohne Verwandte kam sie in Krailling an und machte sich auf die Suche nach einer Bleibe und nach Arbeit. „Gehen Sie erst einmal zum Bader Seppl“, das war der Altbürgermeister Josef Bader, „der wird ihnen weiterhelfen“, sagte man ihr. Bald fand sie sich im Sägewerk Linner wieder, wo sie ein warmes Bett und einen heißen Kaffee bekam. Frau Linner empfahl ihr, sie solle im Waldsanatorium nach Arbeit fragen. Und obgleich dort schon viele Flüchtlinge Unterschlupf gefunden hatten, fand man auch für Ilse Mayr einen Platz. „Ich habe dort erstmal 10 Knödel gegessen, der ganze Tisch hörte auf zu essen, und sah mir zu“, erzählt sie heute.
Kurz darauf wurden mit Hilfe des Roten Kreuzes auch ihre Eltern gefunden, denen sie auf dem Gelände des Waldsanatoriums eine Unterkunft verschaffen konnte. Um nun den Küchenbauer bezahlen zu können, fertigte sie in Heimarbeit hunderte von Papierblumen an, das Stück für einen Pfennig. Denn im Waldsanatorium hatte sie ihren zukünftigen Mann kennen gelernt, und nun brauchte sie eine Küche. Der Küchenbauer war selbst ein Flüchtling gewesen und hatte Mitleid mit ihr, so baute er ihr eine Küche für 500 Mark. Schon beim ersten Besuch gab sie ihm 250 Mark, und er gestand ihr Jahre später, dass er mit 5-Mark-Raten gerechnet hätte, und ungeheuer beeindruckt gewesen wäre von ihrem Fleiß. 1949 heiratete sie, 1956 brachte sie ihre Tochter Elisabeth zur Welt. Heute hat sie drei Enkelkinder und 2 Urenkel. „Mir ist es trotz allem immer noch gut gegangen“, sagt Ilse Mayr rückblickend, „andere hatten es viel schlechter.“
Die Rotkreuzbereitschaft Planegg/ Krailling ist sehr stolz auf ihr ältestes Mitglied – und angesichts des hohen Alters, das ihre Eltern erreichten, die Mutter wurde 93 und der Vater 94 Jahre alt, dürfen sie sich wohl noch auf noch ein paar Jahre Gemeinschaft mit Ilse Mayr freuen.
Artikel Münchner Merkur